Politik

Kritik an Koalitionsvertrag "8000 neue Pfleger - das ist eine Verhöhnung"

Die Gesellschaft verdrängt die Probleme in der Pflege, sagt Experte Claus Fussek.

Die Gesellschaft verdrängt die Probleme in der Pflege, sagt Experte Claus Fussek.

(Foto: picture alliance / Frank Rumpenh)

Pflegekritiker Claus Fussek ist vom Koalitionsvertrag enttäuscht. Doch die Gesellschaft sei selbst schuld: "Bei der Bundestagswahl war nicht die Pflege die Schicksalsfrage der Nation, sondern der Diesel", beklagt Fussek im n-tv.de-Interview.

Pflegekritiker Claus Fussek ist vom Koalitionsvertrag enttäuscht. Doch die Gesellschaft sei selbst schuld: "Bei der Bundestagswahl war nicht die Pflege die Schicksalsfrage der Nation, sondern der Diesel", beklagt Fussek im n-tv.de-Interview.

n-tv.de: Die Große Koalition hat fertig verhandelt und verspricht einen "Neustart in der Pflege". Können Sie sich dieser euphorischen Bewertung anschließen?

Claus Fussek: Jeder, der den Alltag in der Pflege kennt, steht fassungslos vor solchen Aussagen.

Claus Fussek ist einer der bekanntesten Pflegekritiker Deutschlands. Er hat mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben.

Claus Fussek ist einer der bekanntesten Pflegekritiker Deutschlands. Er hat mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben.

(Foto: imago/epd)

Im Koalitionsvertrag steht, als Sofortmaßnahme sollen 8000 neue Stellen geschaffen werden. Reicht das?

Stellen Sie sich vor, es ist Hochwasser in Passau. Die Rettungskräfte sagen, wir brauchen 80.000 Sandsäcke, sonst säuft die Stadt ab. Und die Politik sagt: Okay, wir haben es verstanden, wir schicken euch 8000. Übertragen auf die Pflege meine ich damit: Da kommt ein Viertel Pfleger zusätzlich auf jedes Heim. Was soll das? Warum 8000? Warum nicht 9000, warum nicht 7000? Wo haben Union und SPD diese willkürliche Zahl her? Nein, das ist eine Verhöhnung der Pflege. Wie viele Pfleger wirklich fehlen, weiß kein Mensch.

Jetzt heißt es, man wolle Personalbemessungsinstrumente schaffen, um diese Frage zu klären.

Ja, aber die gibt es doch schon längst! Das ist doch absurd. Wir schreiben das Jahr 2018 und es gibt gut geführte Pflegeheime in Deutschland. Und die wissen doch, wie viel Personal man für die Pflege braucht. Jetzt soll es wieder irgendeine Studie geben, die dann irgendwann fertig wird. Das ist Irrsinn.

Es wird von der Großen Koalition auch versprochen, die Bezahlung nach Tarif "zu stärken". Was ist davon zu halten?

Sie hätten ehrlicherweise in den Koalitionsvertrag schreiben sollen: Uns interessiert dieses Thema nicht und wir fühlen uns nicht zuständig. Denn für die Bezahlung sind in Deutschland die Tarifparteien verantwortlich, da hat die Politik gar nicht mitzureden. Und für die Rahmenbedingungen gibt es die Pflegeselbstverwaltung.

Gute Pflege will jeder, eine bessere Bezahlung ebenso. Wieso tut sich Deutschland da so schwer?

Es ist jedenfalls genügend Geld im System. In der Pflege werden Milliarden bewegt. Die Hälfte der Heime steht in privater Hand und die Konzerne dahinter sind größtenteils börsennotiert. Das ist also ein System, in dem man sogar Rendite machen kann. Das Problem ist aber: Es ist absolut intransparent. Keiner weiß, wohin das Geld geht, aber man ahnt es natürlich. Und die Tatsache, dass völlig unterschiedliche Pflegequalitäten zum selben Preis zu haben sind, zeigt, dass das System kollabiert ist.

Was hätte im Koalitionsvertrag also eigentlich stehen müssen, um das System zu retten?

Die Politik muss die Pflege der Selbstverwaltung wieder entreißen und die Verantwortung für Schutzbedürftige und sterbende Menschen übernehmen. Keiner würde auf die Idee kommen, Kindergärten in die Hände von börsennotierten Unternehmen zu geben.

Warum ändert sich das nicht?

Die Gesellschaft hat andere Prioritäten. Bei der Bundestagswahl war nicht die Pflege die Schicksalsfrage der Nation, sondern der Diesel. Und Politik reagiert eben nur auf den Druck der Bevölkerung. Offensichtlich ist das Thema Pflege bei uns noch nicht angekommen. Wir verdrängen es und hoffen, dass es uns später nicht trifft.

Sind es nur die Konzerne, die verantwortlich sind für die Misere?

Pfleger und Ärzte sind ebenso Teil des Systems. Sie müssten sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen und mehr Verantwortung übernehmen für das wirklich schwächste Glied in der Kette: die Patienten. Wenn sie nur das dokumentieren würden, was sie leisten, hätten wir das Problem schwarz auf weiß. Und ehrlich sagen, was sie überhaupt schaffen können. Aber auch das geschieht nicht. Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, müssten sich solidarisieren - untereinander und mit den Angehörigen. Dann hätten sie eine Macht, die größer ist als die jeder Lokführergewerkschaft.

Das klingt alles düster.

Ja, wir kommen als Bürger nicht darum herum: Es geht um Eigenverantwortung. Es geht um unsere Eltern und Angehörigen, die ordentlich versorgt werden müssen. Jeder weiß es, jeder kann sich überzeugen. Das Personal ist momentan nicht da. Wenn jemand also im Pflegeheim ist, hat man sich um seine Angehörigen eben zu kümmern. Essen, Trinken, Spazierengehen - das zu gewährleisten, ist mit diesem Personal nicht möglich.

Mit Claus Fussek sprach Johannes Graf

Quelle: ntv.de

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